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Reisebericht
Die Nacht war schrecklich; vor lauter Kopfschmerzen wegen der für uns wieder ungewohnten Höhe und Übermüdung konnte ich
kaum schlafen. Und dann mussten wir auch noch 4.30 Uhr aufstehen, denn 5.30 Uhr ging es zum Santa-Ana-Bahnhof. Die Ruinen
von Machu Picchu sind nämlich nur mit der Eisenbahn oder in einer 3-5-Tägigen Wanderung über den alten Inka-Weg zu
erreichen. Wir wählten die Eisenbahn. Der 6-Uhr-Touristenzug ist blau-gelb und ein reiner 2.-Klasse-Zug. Der orange-gelbe 1.-
Klasse-Touristenzug folgt 1 Std. später. Die Hin- und Rückfahrt 2. Klasse kostet 70 US$, dafür ist man vor kriminellen
Einheimischen, den sog. Schlitzern sicher. Ahnungslose Touris-ten müssen immer mal wieder dran glauben, vor allem
Rucksacktouristen, die mit dem zuletzt fahrenden 3.-Klasse-Zug fahren. Die Strecke misst einfach 110 km; die Hinfahrt sollte 3:20,
die Rückfahrt 3:40 Std. dauern. Wir hatten reservierte Plätze im Wagen 11 des Schienenbusses und bekamen kurz nach der
Abfahrt um 6 Uhr noch ein zweites Frühstück serviert.
Schleppend kroch der Zug in 4 Spitzkehren den steilen Berg von Cuzco hinauf bis zum Pass auf 3.700 m
NN, dann ging es wieder abwärts durch karge Punalandschaft und durch tief eingeschnittene Schluchten
hinab ins fruchtbare Tal des Río Urubamba. Teilweise waren die Felder noch weiß vom gestrigen Hagel.
Bei Izouchaca hatten wir einen unfreiwilligen Zwangsstopp, der uns eine Stunde Verspätung einbrachte:
Die einspurige Strecke war durch Demonstranten mit Transparenten, die für die Abschaffung der
Touristenzüge plädierten, blockiert. Erst durch Polizeiunterstützung gelang es dem Zug weiterzufahren.
Mittlerweile stand auch der 1.-Klasse-Touristenzug hinter uns. Hier in Perú sind die Lebensbedingungen
und die Meinung über die Weißen genauso hart wie in Ecuador. Ist somit nicht verständlich, dass die
Einheimischen, von denen viele gar keine Arbeit haben und andere für "'nen Appel und 'n Ei" schuften
müssen, protestieren, während die Reichen in luxuriösen Villen mit Wachleuten und Elektro- oder Stacheldraht-Zaun wohnen?
Davon haben wir in den Nobel-Ortsteilen der Städte unzählige gesehen! Resultat dieser sozialen Ungerechtigkeit sind die
untersten der Gesellschaft, die Schuhputzer, Bettelkinder und Taschendiebe.
Die Pomatales-Schlucht war wunderschön, der Zug fuhr so nahe an den Felsen vorbei, dass er sie fast streifte. Von hier gelangten
wir in das Heilige Tal der Inka: Das breite, hier auf 2.800 m NN liegende Urubamba-Tal, in dem die Vegetation teilweise schon
Regenwald-Charakter aufweist, wird seit Urzeiten landwirtschaftlich genutzt; ab und zu kann man noch die schon von den Inka
angelegten Terrassen sehen. Der Río Urubamba windet sich durch das Tal, bildet Stromschnellen und Wasserfälle dort, wo die
riesigen Felsbrocken im Weg liegen. Am Bahnhof Ollantaytambo hielt der Zug kurz, um noch ein paar Rucksack-Reisende
aufzunehmen. Die Einheimischen mussten draußen bleiben und so verkauften die Händlerinnen ihre Maiskuchen und anderen
Speisen eben durch die Zug-Fenster. Hinter Ollantaytambo ändert sich etwa bei km 67 das Bild völlig. Sattes Grün verdrängte die
gelbbraunen Farbtöne. Die Felswände werden steiler und die Luft plötzlich feucht und schwer - wir sind im Regenwald
angekommen! Am km 88 hielt unser Zug noch einmal kurz in Qoriwayrachina: Hier können mutige Wanderer den Zug verlassen
und zu Fuß eine strapaziöse Tagestour auf dem alten, nicht ganz ungefährlichen Inka-Weg, der ständig auf und ab über einen ca.
4.000 m hohen Pass führt, nach Machu-Picchu unternehmen. Dabei sind am Anfang des Weges 1.200 Stufen zu erklimmen. Mit
dem Zug benötigten wir für den Rest des Weges nur noch 35 min. und erreichten um 10.30 Uhr den Touristen-Bahnhof bei km
112. Dieser ist durch Sicherheitsbeamte abgeriegelt. Zutritt haben nur Touristen und Einheimische, die im Bahnhof arbeiten.
Durch einen bunten Budenmarkt und über eine Brücke gelangten wir zu den wie auf einer Kette aufgereihten Zubringerbussen. In
25 min. ging es nun in vielen Serpentinen hinauf zur auf 2.700 m NN liegenden Inkastadt
Machu Picchu.
Die rätselhafte Inka-Stadt liegt so tief im peruanischen Urwald, dass sie von den spanischen Eroberern nie gefunden und erst
1911 wiederentdeckt wurde, als der Amerikaner HIRAM BINGHAM mit einer Maultierkarawane dorthin kam.
"Während einer Lagerpause traf B. einen Bauern, der ihm von Ruinen auf einem nahe gelegenen Berg, dem Huayna Picchu,
erzählte. Am nächsten Tag, dem 24. Juli, führte er den skeptischen Amerikaner einen baumüberwucherten Steilhang hinauf, auf
dem es nur so vor Schlangen wimmelte. Kurz vor dem Gipfel tat sich zu B.s Erstaunen eine Flucht ausgedehnter Steinterrassen
auf, und dann sah er auch überwachsene und moosbedeckte Mauern von uralten Inka-Gebäuden. Eine Entdeckung jagte die
andere: weiße Granitbauten aus übermannshohen Blöcken, verfallene Tempel, Plätze, Bäder und Höfe setzten den Forscher in
höchstes Erstaunen, und er fragte sich: Wird mir überhaupt jemand meine Entdeckung glauben?" (Quelle: Harpur/Westwood
"Legendäre Stätten der Menschheit", 1996)
Wie ein Adlerhorst klebt die Stadt über den senkrechten Felswänden; rechts und links Abgrund, vorn und hinten Berge. Der
"Postkarten-Berg" heißt Huaina Picchu [2.743 m NN], der "Neue Berg", Machu Picchu, der "Heilige Berg", selbst erhebt sich - auf
Postkarten nicht sichtbar - hinter der 5 km² großen Stadt. Wie viele Menschen mögen hier gelebt haben, 10.000 oder 50.000? Und
was mag sie gewesen sein? Jedenfalls geriet diese Stadt innerhalb eines Jahrhunderts völlig in Vergessenheit und wurde von der
Natur zurückerobert. Heute gehört die von der wuchernden tropischen Vegetation befreite Ruinen-Stadt zu den bedeutendsten
Sehenswürdigkeiten Amerikas.
Unser Rundgang begann am sog. Friedhof, der oberhalb des alten Inka-Weges nach Cuzco liegt. Dieser
wieder-um war früher der einzige Zugang zur Stadt. Der zweite Inka-Weg endet etwa 20 min. hinter dem
Friedhof der Inkastadt an einer Brücke - er wurde nie vollendet. Als die Stadt erforscht wurde, fand man
hier 174 Mumien, die durch das feuchte Klima in sehr schlechtem Zustand waren. Von den Terrassen des
Friedhofs aus bietet sich ein fantasti-scher Blick über die Ruinen zum steil aufragenden Huaina Picchu.
Das ist der Blick, wie man ihn oft in Reiseführern oder auf Bildern und Postkarten zu sehen bekommt. Wir
sahen den Tempel auf dem neuen Berg, der gebaut wurde, um die ersten Sonnenstrahlen einzufangen;
gegenwärtig wird er restauriert. (Hans und Jürgen aus unserer Gruppe wagten es später, den Berg zu
besteigen. Sie benötigten für den Schwindel erregenden Treppen-Weg 50 min. hoch und 30 min. wieder runter.) Selbst auf dem
2.700 m hohen Neuen Berg gibt es noch Ruinen und Feldbauterrassen. Die Inka waren hervorragende
Selbstversorger.
Anschließend stiegen wir zur Stadt hinab. Die Gebirgslandschaft, die wir dabei sahen, war fast schöner
als die Ruinen-Stadt selbst. Man kann hier, wie sonst nirgendwo, in solcher Geschlossenheit die Felder-,
Wege- und Häuserbaukunst der Inka-Architekten studieren. Paläste, Festungen, Wohngebiete, religiöse
Stätten, Terrassen, Treppen, Straßen, Plätze und Trinkwasseranlagen bilden eine einzigartige Kulisse.
Der Heilige Platz, der Hauptplatz, ist von den Ruinen zweier Tempel umgeben: Am Templo de las tres
Ventanas (Tempel der drei Fenster) erzählte uns Alberto folgende Geschichte: "Die
4 Brüder und Schwestern Ayar waren göttlichen Ursprungs und vereinigten die
verschiedenen Stämme der Qechua zum Inka-Reich. Die Paare traten strahlend vor Kraft und Weisheit aus
drei Fenstern eines Berges auf die Erde." Der Templo Principal (Haupttempel) verdankt seinen Namen
einem altarähnlichen Steinblock. Die nach oben immer schmaler werdenden Steinquader täuschen optisch
und lassen das Gebäude höher erscheinen als es tatsächlich ist. Der "Altar"-Block selbst ist nicht fertig
behauen. Daran erkennt man, dass in Machu Picchu viele Gebäude nie vollendet wurden. Links neben dem
Tempel steht außerdem ein dem Kreuz des Südens nachempfundener und in dessen Richtung zeigender
Stein.
Nun ging es schnellen Schrittes weiter. Für Alberto, den Cuzceño, war es kein Problem, die großen Stufen hinauf und hinab zu
steigen. Er hatte die entsprechende Kondition. Für uns, die wir erst am Vortag von Meereshöhe in dieser Höhe ankamen, stellte es
schon eine gewisse Anstrengung dar. Prustend und schnaufend kämpften wir uns langsam auf den nächsten, schmalen steilen
Hügel vorwärts. Hier steht Intihuatana, das Sonnenobservatorium. Wörtlich übersetzt heißt es: Inti = Sonne, Huatana =
Beobachtung, Huata = Jahr. Vielleicht diente die seltsam geformte, aus dem gewachsenen Fels geschlagene 1,80 m hohe
Steinsäule ja wirklich der Vermessung der Sonnenlaufbahn. Genau weiß man das allerdings nicht. Wie
eine Sonnenuhr sieht der Stein jedenfalls aus. Der Weg führte uns nun weiter zum Tempel des Heiligen
Steines. Dabei ist der Stein interessanter als der rustikal wirkende Tempel selbst. Er ist 3 m hoch, nackt,
von einer niedrigen Mauer umgeben und hat verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kaninchen oder
Meerschweinchen. In einer Reportage, die wir später sahen, zeigte man diesen Stein mit einem realen
Fels im Hintergrund - vielleicht ist der Heilige Stein dessen Abbild? Leider war bei uns die Sicht durch
dicke Wolken getrübt. Sonst wäre uns sicherlich dieser Effekt auch aufgefallen. Durch das
Gelehrtenviertel kamen wir in das Gefängnisviertel. Den zentralen Teil des Gefängnisses bildet ein
kleiner Hof mit einem Felsen, in dem man mit etwas Fantasie einen Kondorkopf auf einer Steinplatte
erkennen kann; der dahinter stehende Felsen könnte die Kondorflügel darstellen. Ich hielt natürlich die Steinplatte für den
Kondorkopf und den Kopf selbst für ein Auge des Vogels. Soviel zum Thema Fantasie... Von hier war es nur noch ein
Katzensprung zur Straße der Brunnen. Zwischen zwei Treppenfluchten befinden sich mehrere übereinander liegende Becken, die
die Funktion einer zentralen Wasserverteilungsstelle hatten. Tatsächlich floss auch ein wenig Wasser bergab. Diese Anlage wird
auch Baño del Inca, Inka-Bad, genannt, da der Hauptbrunnen relativ groß und sorgfältig bearbeitet ist und eine Art Bad gewesen
sein könnte.
Nun wollte Alberto noch zu diesem oder jenem Tempel hoch und runter in Machu-Picchu jagen, doch die Werle's hatten genug.
Also setzten wir uns auf eine der vielen, mit fettem Rasen bewachsenen Terrassen und ruhten uns aus. Orangen, etwas Wurst und
Brot sowie Trinkwasser hatten wir in unserem Rucksack dabei, sodass wir uns das hier oben sehr teure Restaurant sparen
konnten. Und wir entdeckten sogar einen grün-metallic glänzenden Kolibri auf dem Baum neben uns - übrigens der einzige auf der
ganzen Südamerika-Tour.
Gegen 14 Uhr begaben wir uns zum Ausgang und fuhren mit einem Zubringerbus wieder hinab zum Bahnhof. Dabei erlebten wir
eine originelle Art von Kinderarbeit: Ein etwa 7-Jähriger Junge im Inka-Kostüm lief die Stufen des Inka-Weges hinunter, während
unser Bus die Serpentinen ausfahren musste. Immer wenn sich Weg und Straße kreuzten, stand er schon da und grüßte winkend
mit einem Schrei. Unten angekommen, stieg er in den Bus und kassierte bei jedem Touristen ab. An dem Budenmarkt ließ er sich
wieder absetzen.
Normalerweise fährt der Touristenzug um 15 Uhr zurück; durch die Verspätung am Morgen wurde die Abfahrt auf 16.10 Uhr
verschoben. Während wir auf der Hinfahrt an der Bergseite saßen, genossen wir die Talseite in der Abenddämmerung, die
schneebedeckte Cordillere de Vilcanota mit den Vulkanen Chincón [5.500 m NN] und Verónica [5.750 m NN] erstrahlte im letzten
Sonnenlicht. Wenig später kam der Sonnenuntergang und danach war es stockduster. Im Zug wurde die Nachtbeleuchtung
eingeschaltet und wir hielten ein kleines Schläfchen, bis die Schienen kreischten. Wir hatten schon die Spitzkehren von Cuzco
erreicht. Die Inka-Hauptstadt war herrlich beleuchtet. Sogar den Flughafen konnten wir ausmachen. Dazu kam noch ein Gewitter
mit schönen Blitzen.
Kurz nach 20 Uhr erreichten wir den Bahnhof und wenig später unser Hotel in Cuzco.
Copyright © 2002 Regine Werle. Alle Rechte vorbehalten
29. Oktober 2001